- Gewerkschaften: Einig sind wir stark!
- Gewerkschaften: Einig sind wir stark!Im Sommer 1868 informierte der Nationalökonom Max Hirsch in einer Artikelserie die Leser der Berliner »Volks-Zeitung« über seine Eindrücke und Erlebnisse während eines mehrwöchigen Englandaufenthalts. Dort hatten in London, Manchester und Birmingham »Trade Unions« seine Aufmerksamkeit erregt. Diese »Gewerkvereine« bezeichnete er als »unbedingt das Interessanteste und Großartigste«, was er im Pionierland der Industrialisierung kennen gelernt habe. Begeistert stellte er deren effektive Organisationsstruktur und sozialreformerischen Charakter heraus. Sie dienten ihm als Vorbild, als er im September 1868 in Berlin einen Verein der Maschinenbauer gründete, der sich der »Förderung aller berechtigten Interessen der Arbeitnehmer auf dem Boden der Selbsthilfe« annehmen wollte.Gewerkschaftliches GründungsfieberZwei Tage nach dieser Initiative des linksliberalen Reformers tagte in Berlin ein Allgemeiner Arbeiterkongress, auf dem sich über 200 Delegierte trafen, um ein sozialdemokratisches Gewerkschaftskonzept zu diskutieren. Schon zwei Monate später veröffentlichte August Bebel »Musterstatuten für deutsche Gewerksgenossenschaften«, die sich zum marxistischen Internationalismus bekannten. Die 1867/68 überall in Deutschland aufbrandende gewerkschaftliche Organisationswelle löste einen erbitterten Konkurrenzkampf von Parteipolitikern aus, die den Prozess der Gewerkschaftsbildung steuern wollten. Diese legten die Grundsteine für sozialdemokratische, liberale und später auch christliche Richtungsgewerkschaften, die bis 1933 die deutsche Gewerkschaftsgeschichte prägen sollten.In Großbritannien, dem europäischen Ursprungsland der Industrialisierung, wo schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts Gewerkvereine eine zentrale Rolle im Arbeitsalltag spielten, waren Handwerkstraditionen die Geburtshelfer der Gewerkschaften gewesen. Buchdrucker und Buchbinder, Schlosser und Schmiede, Zimmerleute und Zigarrenarbeiter traten hier als soziale Pioniergruppen bei der Organisationsbildung hervor. Die überragende Bedeutung dieser Handwerker-Arbeiter als Gewerkschaftsgründer ist im Übrigen ein gesamteuropäisches Phänomen. Sie waren hoch qualifizierte Fachkräfte, auf deren Wissen man nicht verzichten konnte, und hatten schon in den Zeiten der Zunftverfassung und der Gesellenbruderschaften die Prinzipien von Selbsthilfe und Solidarität praktiziert.Die Bedeutung der Handwerkstradition im gewerkschaftlichen Gründungsprozess spiegelte sich auch in der Organisationsvielfalt der jungen Verbände wider: Sie blieben zumeist auf bestimmte Berufe ausgerichtet. So existierten in Großbritannien im späten 19. Jahrhundert noch rund 2 000 verschiedene Berufsverbände, doch neben ihnen entstanden in der Phase der Hochindustrialisierung Branchen- und Industrieverbände, die handwerkliche Berufsgrenzen überschritten. Diese Zentralisierung der Gewerkschaften in der Metallindustrie, im Bergbau oder im Bausektor ging jedoch einher mit ihrer politischen Zersplitterung. Einheitsgewerkschaften, die auch politisch eine gemeinsame Linie verfolgten, blieben in Europa bis heute die Ausnahme.Nach dem Ersten Weltkrieg mündete die Spaltung der politischen Arbeiterbewegung in einen reformistischen und einen kommunistischen Flügel auch in einer Spaltung der nationalen und internationalen Gewerkschaftsbewegung. Diese ideologisch motivierte Konfrontation schwächte in der Zwischenkriegszeit, aber auch nach 1945 die Gewerkschaften. Heute ist der Grad der Gewerkschaftseinheit größer als je zuvor, aber in Frankreich oder Italien, in Dänemark oder in den Niederlanden bestehen immer noch mehrere nationale Dachverbände, die miteinander um Einfluss und Erfolg konkurrieren.Wegbereiter der sozialen Demokratie in EuropaTrotz der schwer auf einen Nenner zu bringenden nationalen Konstruktionsprinzipien und organisatorischen Binnenstrukturen der europäischen Gewerkschaftsbewegung lassen sich programmatische Gemeinsamkeiten nachweisen, die in allen Ländern die Gewerkschaftsgeschichte prägten. Seit ihrer Gründung verstanden sich die Gewerkschaften immer als Interessenorganisationen, die für eine Verbesserung der Arbeits- und Einkommenssituation der unselbstständigen Erwerbsbevölkerung eintraten. Sie entwickelten im Laufe der Zeit zwar unterschiedliche Emanzipationsziele und beschritten auch eigene Wege, um diese Ziele zu erreichen, gemeinsam blieb ihnen aber das Selbstverständnis, die soziale Schutzmacht von abhängig Beschäftigten zu sein. Schon vor 1914 dominierte in ihnen zumeist eine reformerische Grundeinstellung, auch wenn in den romanischen Ländern syndikalistische Theorien und die Idee der direkten Aktion zum Handlungsrepertoire gehörten. Die britischen, skandinavischen und auch die deutschen Gewerkschaften favorisierten die Strategie der schrittweisen Veränderung, für die sie einen demokratisierten Staat als Bündnispartner zur Bändigung des Privatkapitalismus gewinnen wollten. Sozialpartnerschaft und nicht Sozialismus wurde zu ihrem Ziel.Die europäische Gewerkschaftsgeschichte ist außerdem gekennzeichnet durch einen immer wieder von Rückschlägen unterbrochenen Kampf um Autonomie und Anerkennung. Es ging um die Unabhängigkeit von jeder Art von Bevormundung und um die Schaffung einer tragfähigen Rechtsbasis im Verhältnis zu Staat und Unternehmern. In allen europäischen Ländern handelte es sich zunächst um die Durchsetzung des Koalitionsrechts, also des Grundrechts, überhaupt Gewerkschaften bilden zu dürfen. Dieser Kampf begann in Großbritannien im frühen 19. Jahrhundert und er dauerte im Osten Europas bis in die Gegenwart an, wenn man das Schicksal der Gewerkschaften in der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten in die Betrachtung einbezieht. Die Absicherung der Gewerkschaftsrechte bei Arbeitskonflikten, die Schaffung von tarifvertraglich geregelten Arbeitsbeziehungen und die Durchsetzung von innerbetrieblichen und überbetrieblichen Mitbestimmungsmodellen sind aus historischer Sicht die großen Leistungen der nationalen Gewerkschaftsbewegungen, die zu Wegbereitern der sozialen Demokratie in Europa wurden.Zum gemeinsamen Schicksal der europäischen Gewerkschaftsbewegung gehört ferner, dass sie in den anderthalb Jahrhunderten seit ihrer Entstehung immer wieder existenzgefährdenden Ausnahmesituationen ausgeliefert war. Hierbei gab es unterschiedliche nationale Pendelschläge, die von der brutalen Verfolgungs- und Verbotspolitik des deutschen Nationalsozialismus oder des italienischen Faschismus bis zur autoritären Bevormundung der Gewerkschaften in den Staatssyndikaten des spanischen Francoregimes oder ihrem Missbrauch als Transmissionsinstanzen der kommunistischen Staatsparteien im Ostblock reichten. Die immer wieder zu beobachtende Renaissance der Gewerkschaftsbewegung nach vielerlei Rückschlägen sollte jedoch denjenigen zu denken geben, die ihnen keine Zukunft mehr zubilligen wollen.Die Zukunft der GewerkschaftenDie Überlebensfähigkeit der als »Dinosaurier des Industriezeitalters« verspotteten Gewerkschaften hängt auch von ihrer eigenen Reformfähigkeit ab. Ökonomisch konfrontiert mit einer Internationalisierung der Kapitalverwertung und mit neuen globalen Rekrutierungsstrategien auf den Arbeitsmärkten, organisatorisch bedrängt durch die Individualisierung der Beschäftigungsverhältnisse und veränderte Interessenkonstellationen bei Industriearbeitern, Angestellten und Angehörigen des öffentlichen Dienstes, sozial herausgefordert durch die Massenarbeitslosigkeit und den Abbau von sozialstaatlichen Sicherungssystemen, müssen die Gewerkschaften ihr Rollenverständnis wandeln und nach neuen Schnittstellen für Solidarität suchen.Dieser Abschied von überkommenen Organisationsformen und tradierten Denkhaltungen wird auch durch die Europäisierung der nationalen Gesellschaften erzwungen. Wenn die Gewerkschaften ihre Doppelrolle als Interessenverband der abhängig Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt und als gesellschaftsgestaltende Reformkraft in der Demokratie weiterhin erfolgreich spielen wollen, müssen sie ihre Position als Massenbewegung zwischen Politik und Ökonomie schärfer akzentuieren und ihre internationale Handlungsfähigkeit auf der europäischen Bühne besser unter Beweis stellen. Für beides bietet die Gewerkschaftsgeschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts genügend Anschauungsmaterial.Prof. Dr. Klaus Schönhoven
Universal-Lexikon. 2012.